Eine neue Studie des gesamten Erbguts eines gefürchteten Krankheitserregers der Edelkastanie trägt wesentlich zum Verständnis bei, wie sich invasive Schadorganismen ausbreiten können. Die Arbeit der Forschenden der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL) und der Universität Neuenburg wurde in der wissenschaftlichen Zeitschrift eLife veröffentlicht.
Seit einigen Jahrzehnten wird die Edelkastanie, das Aushängeschild des Tessins und des Mittelmeerraums, von einer gefürchteten Plage heimgesucht: dem Kastanienrindenkrebs, verursacht durch den Pilz Cryphonectria parasitica.
«Die Geschichte begann in den USA zu Beginn des 20. Jahrhunderts», sagt der Studienleiter Daniel Croll, Direktor des Labors für Evolutionsgenetik an der Universität Neuchâtel. «Innerhalb weniger Jahrzehnte dezimierte dieser aus Asien stammende Erreger fast 100 % der Kastanienbäume auf dem amerikanischen Kontinent, wie viele zeitgenössische Fotos zeigen.»
Mitte des 20. Jahrhunderts breitete sich der Pilz auch in Europa aus. Von Norditalien aus verbreitete er sich über Mitteleuropa und den Mittelmeerraum, einschliesslich der Schweiz. Innerhalb weniger Jahrzehnte legte der Erreger eine Strecke von mehreren tausend Kilometern zurück.
Durch die Untersuchung der Genetik des Pilzes haben die Wissenschaftler zwei Besonderheiten identifiziert, die seine Ausbreitung erklären. Bei ihrer Doktorarbeit an der WSL hat Lea Stauber 230 Genome der vorherrschenden europäischen Stämme sequenziert und analysiert. «Wir sind zum Schluss gekommen, dass sich die Krankheit dank des sogenannten ’Brückenkopf-Effekts’ ausbreiten konnte», erklärt Stauber. Im «Brückenkopf» können sich die Pilzstämme etablieren und diversifizieren. Er bildet eine Art Basislager für die weitere Ausbreitung des Pilzes. Zum Beispiel ist der Ursprung des Kastanienrindenkrebs im Mittelmeerraum und in Südosteuropa auf solch einen Brückenkopf in Norditalien zurückzuführen.
Ausserdem hat sich der Pilz bei seiner Ausbreitung in Europa zumeist auf ungeschlechtliche Vermehrung verlassen, d. h. auf die Fähigkeit, sich mit sich selbst zu vermehren, anstatt Energie für die Suche nach einem Partner zu verbrauchen. Aber dies könnte mittelfristig auch seine Schwäche sein. Der Erreger hat einen natürlichen Feind, der ihn weniger schädlich macht: ein Virus. Dieses Virus verbreitet sich am besten in ungeschlechtlichen (klonalen) Populationen des Kastanienrindenkrebses. Mit diesem Virus, das nur den Pilz befällt, wird die zerstörerische Krankheit bereits seit den 1960er Jahren biologisch bekämpft.